Marcus Clauss, Jean–Michel Hatt

Thinking out of the box

Einfälle der Evolution am Beispiel der Futterzerkleinerung bei Pflanzenfressern

Aus Sicht der Verdauung wäre es am einfachsten, wenn alle Tiere Fleischfresser wären!

Aus Sicht der Evolution wäre dies allerdings kontraproduktiv, da geeignete Nischen nicht genutzt würden.

Zahlreiche Säugetiere – und Wirbeltiere allgemein – nutzen Pflanzenmaterial als Nahrung. Dazu sind sie auf die Verdauung von Pflanzenfasern durch in ihrem Magen-Darm-Trakt lebende Mikroben angewiesen. Diese Mikroben können dieses Material umso effizienter verwerten, je feiner es – zum Beispiel durch Kauen – zerkleinert ist.

Aus diesem Grund ist die Evolutionsgeschichte der Säugetiere durch eine enorme Formenvielfalt in den Kauflächen der Zähne gekennzeichnet. Bei den grossen Pflanzenfressern sind es die Pferdeartigen, die in dieser Hinsicht den Rekord halten: sie haben die komplexeste Backenzahn-Oberfläche aller Säugetiere. Und wie zu erwarten wäre, erzielen sie damit auch eigentlich – für ihre Körpergrösse – die feinste Futterzerkleinerung unter den Säugetieren.

Kann man es in dieser Situation noch besser machen als die Pferde? Noch kompliziertere Zähne? Das geht fast nicht. Die Evolution der Wiederkäuer ist ein Beispiel dafür, dass man sich nicht nur auf einen Lösungsweg – Zahnform – versteifen sollte.

Das Kauen könnte nämlich noch effizienter gemacht werden, wenn immer nur die schon feingekauten Stückchen hinuntergeschluckt würden, und man dann wieder von neuem nur auf den grösseren herumkauen könnte. Aber das schafft niemand, zumindest in der Maulhöhle. Der Vormagen der Wiederkäuer (dazu gehören Hirsche, Giraffen, Antilopen, Gazellen, Rinderartige, Schaf- und Ziegenartige und auch - nicht direkt verwandt - die Kamele) macht aber genau das: er sortiert. Was klein ist, bleibt unten im Vormagen und wird dort weiter verdaut. Was noch gross ist, wird nach einiger Zeit wieder hochgewürgt und nochmals gekaut - eben «wiedergekäut».

Vergleicht man alle Säugetiere, so haben für ihre Körpergrösse keine so feine Futterpartikel in ihrem Verdauungstrakt wie Wiederkäuer. Statt «thinking inside the box» - auf immer komplexere Zähne zu setzen - sind Wiederkäuer ein Beispiel für «thinking out of the box» - auch einmal völlig andere Lösungswege ausprobieren!


Prof. Dr. Jean–Michel Hatt ist Professor für Veterinärmedizin an der Klinik für Zoo-, Heim- und Wildtiere an der Vetsuisse-Fakultät der Universität Zürich. Mehr

Prof. Dr. Marcus Clauss ist Professor für Veterinärmedizin an der Klinik für Zoo-, Heim- und Wildtiere an der Vetsuisse-Fakultät der Universität Zürich. Mehr

Schädel einer Giraffe. Foto von Michelle Aimée Oesch Schädel einer Giraffe. Foto von Michelle Aimée Oesch
Schädel eines Rehs. Foto von Michelle Aimée Oesch Schädel eines Rehs. Foto von Michelle Aimée Oesch
Schädel eines Steinbock. Foto von Michelle Aimée Oesch Schädel eines Steinbock. Foto von Michelle Aimée Oesch
Schädel vom Tapir. Foto von Michelle Aimée Oesch Schädel vom Tapir. Foto von Michelle Aimée Oesch



Weiterfuehrende Beiträge