Wenn ich von Antonio Vivaldi «Herbst» aus den «Vier Jahreszeiten» höre, erinnere ich mich spontan an die Zeit, die ich während des «Indian-Summer» in Boston verbracht habe. Wir haben damals intensive Wanderungen in den Indian-Summer-Wäldern unternommen. Diese Musik aktiviert die in meinem autobiografischen Gedächtnis abgelegten Erinnerungsbilder, so als würden sie durch die Melodie wie mit einem Fischernetz aus den Tiefen des Gedächtnisses hervorgeholt. Ich «sehe» dann vor meinem inneren Auge die bunten Blätter dieser Herbstwälder. Ich verspüre den Geruch der von den Bäumen gefallenen und jetzt auf dem Boden liegenden und faulenden Blätter in meiner Nase. Diese spezielle Musik erzeugt bei mir ein individuelles und spezielles Muster an Hirnaktivierungen, die sich als Erregungswellen über den gesamten Cortex entfalten.
Diese Erregungswellen erfassen nicht nur den für die Verarbeitung von Melodien und Tönen spezialisierten Hörkortex, sondern auch den Sehkortex und viele andere Hirngebiete (z.B. jene, die für Gedächtnisfunktionen, Bewegungskontrolle, Geruchswahrnehmung etc. wichtig sind). Musik kann also im Gehirn weit verteilte neuronale Netzwerke und damit verbunden vielfältige Erinnerungsmuster aktivieren.
Prof. Dr. Lutz Jäncke ist Ordinarius für Neuropsychologie an der Universität Zürich. Er beschäftigt sich seit 25 Jahren unter anderem mit den neurophysiologischen und neuroanatomischen Grundlagen der Musikverarbeitung und der Musikexpertise. Mehr
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